Leserbrief auf Artikel vom 10.6. 03 in der Mitteldeutschen Zeitung: "Arbeitskampf und Reformstreit; Die Gewerkschaften machen keine gute Figur mehr ( von Rüdiger Pohl) unter der Rubrik: Gastbeitrag
Rüdiger Pohl stellt seine These: „Weniger arbeiten für das gleiche Geld verteuert Arbeit. Das kostet Arbeitsplätze“ an den Anfang seiner Ausführungen. Er bezieht sich auf die Forderungen der IG Metall für das Tarifgebiet Ost, nach einer 35 Stunden Woche.
Da halte ich dagegen: „Mehr arbeiten für weniger Geld schafft auch keine Arbeitsplätze“. Oder hat Rüdiger Pohl beispielhaft Unternehmen aufgezeigt, die Neueinstellungen in Größenordnungen bewerkstelligt haben, weil ihre Beschäftigten eine Wochenarbeitszeit von mehr als 40 Stunden leisten? Oder weil Beschäftigte für einen Stundenlohn von beispielsweise acht (8) Euro und weniger pro Stunde schaffen? Solche Stundenlöhne sind ja nicht selten im "Ostdeutschen Wirtschaftsgebiet". Wer diese Löhne nicht kennt, möge unter www.arbeitsamt.de unter dem Stelleninformationsservice (SIS) fündig werden. Wo sind die vielen zusätzlichen Arbeitsplätze im Osten der Bundesrepublik, die durch niedrige Stundenlöhne und längere Wochenarbeitszeiten entstanden sind? Nach meinem Kenntnisstand hält der Osten den Rekord bei der prozentualen Arbeitslosigkeit, trotz Niedriglohn!
Das unser Problem die „Arbeitsplatzlücke“ ist, stellt sich für mich nicht als Erkenntnis von Rüdiger Pohl dar, diese Erkenntnis hat er den Gewerkschaften nicht voraus. Arbeit für über vier Millionen Menschen wird nach meiner Auffassung nicht durch längere Wochenarbeitszeiten und Niedriglohn generiert.
Die Frage ist doch, wie viel sinnvolle, bedarfsgerechte Beschäftigung wird von einer Gesellschaft, von Konsumenten und Dienstleistungsempfängern abgefordert und wie geht die Gesellschaft mit dem Fakt um, dass man für die abgeforderte Menge Arbeit mehr als benötigte, arbeitsfähige Menschen zur Verfügung hat. Verteilt, oder besser teilt unsere Gesellschaft die vorhandene Arbeitsmenge oder werden die noch benötigten Beschäftigten einer Arbeitsverdichtung ausgesetzt, um das Betriebsergebnis mit weniger Beschäftigten zu steigern. Von Personalabbau durch Rationalisierungen mal ganz abgesehen.
Die Gewerkschaften fordern eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, treten für eine neue, gerechtere Verteilung der Arbeit ein. Durch kürzere Wochenarbeitszeit lassen sich eben mehr Menschen beschäftigen, dadurch zahlen mehr Menschen in die Staats- und Solidarkassen ein und „Vater Staat“ wird auf diese Weise entlastet.
Die Gewerkschaften streben eine Problemlösung an, die ursächlich Aufgabe der Regierung ist. Nämlich auf die Verteilung der knappen Ressource Arbeit Einfluss zu nehmen. Gewerkschaften widmen sich ihren Zuständigkeiten in der ihre Tarifpolitik, dies ist Rüdiger Pohl anscheinend bewusst entgangen. Aber es ist ja momentan Mode auf die Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu schimpfen. Wer nur plump in die Medienkampagnen gegen die Gewerkschaften einsteigt, betätigt sich als Wellenreiter und bedient Klischees der Totengräber des Sozialstaates.
Ausgegrenzte Mitbürger, die an der Entwicklung Gesellschaft nicht mehr in vollem Umfang teilnehmen können, die unzureichende Betreuungsangebote für ihre Kinder erhalten, ungleiche Bildungschancen haben, die für ihre Kinder nach dem Schulabschluss keinen Ausbildungsplatz finden und die letztendlich keine Arbeits- bzw. Erwerbsmöglichkeit geboten bekommen, sind vom Wohlstand ausgeschlossen. Diese Menschen sehen weiteren Verschlechterungen entgegen, siehe aktuelle Diskussion um die zukünftige Gesundheitspolitik. Wer vermitteln will, dass es der Volkswirtschaft und den Menschen in unserer Gesellschaft automatisch gut ergeht, wenn der einzelne Betriebe unter betriebswirtschaftlichen Aspekten gut dastehen, der erweckt bei mir den Verdacht, die Entmachtung des Staates zu fordern und den Sozialstaat abzuschaffen zu wollen.
Ulrich Schrieber hier der gekürzte Leserbrief in der MZ